Nahversorgung für alle von unten
Seit 2020
„Alles unter einem Dach“ –
Das Motto der großen Warenhäuser, die ihren Ursprung im 19. Jahrhundert hatten, ist Programm: von Nähgarn und Tintenfüller bis zu Koffer und Bekleidung sind unterschiedliche Sortimente an einem zentralen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbaren Ort erhältlich. Meist in Kombination mit Supermarkt, Ärztezentrum, Post oder Apotheke. Unter einem Dach befindet sich sowohl die Beratung und Fürsorge der Verkäufer*innen als auch derjenigen, die Logistik und Technik der Großstrukturen instandhalten und pflegen. Nicht selten entstehen langjährige Beziehungen zwischen Kund*innen und den Mitarbeitenden. Das wurde kurz vor der Schließung des Galeria-Warenhauses in Braunschweig deutlich. Der Eingangsbereich und die Schaufenster waren mit hunderten gelben Blättern beklebt, auf denen die Stadtbewohner*innen ihre Gefühle und Gedanken zur Schließung des Hauses im Herbst 2020 zum Ausdruck brachten. Teilweise handelte es sich um Bedauern für die Mitarbeitenden, teilweise waren es sehr persönliche Nachrichten, und manche schrieben: „Hier hatten wir doch alles unter einem Dach“ oder „Wo sollen wir jetzt hingehen?“.
Initiatorin der Aktion war die Betriebsratsvorsitzende von Galeria Braunschweig Ute Jordan. Mit ihr sprachen wir einige Monate nach der Schließung im Rahmen des Seminars „Warenhaus Andershaus“ am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt, TU Braunschweig. Sie erzählte und von einer WhatsApp-Gruppe mit ca. 80 ehemaligen Mitarbeitenden, von denen bisher nur fünf eine neue Anstellung gefunden hätten. In der Gruppe, so Jordan, tauchte immer wieder der Impuls auf, das Haus in Selbstverwaltung weiterzuführen. Als die Schließung bekannt wurde, fehlte es jedoch an Unterstützung.
Signa Holding, Eigentümer von Galeria Karstadt Kaufhof, plante 2020 deutschlandweit die Schließung von 47 Filialen und die Entlassung von 4.000 Mitarbeitenden. Auch aktuell sind weitere 47 Schließungen in Gange – bald werden von ursprünglich 172 Warenhäusern 2020 nur noch 82 übrig sein. Der Konzern ist ein Immobilienkonzern, der die Warenhäuser sukzessive seit 2014 aufkaufte. Wo er auch im Besitz der Immobilien ist, werden die Gebäude zu Büros umgebaut, wo es andere Eigentümer*innen gibt, stehen die Gebäude leer oder werden umgenutzt. Doch eines ist klar: Der Immobilienkonzern ist nicht an Warenhäuser oder der Nahversorgung interessiert. Das ist ein Grundproblem, denn es besteht eine Abhängigkeit der sorgenden, städtischen Infrastruktur von den Konzern-Interessen. Wenn die Warenhäuser in Zukunft Räume einer gemeinwohlorientierten Nahversorgung bleiben sollen, steht die Eigentumsfrage im Zentrum des zu lösenden Problems.
Seither gibt es eine breite Auseinandersetzung mit der Zukunft der Warenhäuser. Viele Entwürfe und Überlegungen zur Umnutzung und zum Umbau der großen Häuser gehen aber nicht mehr von Versorgungsinfrastrukturen aus bzw. von Orten, die Menschen mit Gütern des täglichen Lebens versorgen. Ausgangspunkt des Seminars hingegen war das „Andershaus“ – ein Warenhaus, das die Versorgung anders und als Teil des städtischen Zusammenlebens organisierte: gemeinwohlorientiert, klimagerecht, sozial gerecht. Dabei wurden zwei Dinge als vorhanden verstanden: der gebaute Raum mit seinem gesellschaftlichen Nutzungszweck – der zentralen Versorgung – und der soziale Raum mit den Menschen, die diesen instandhielten, umsorgten, belebten und ihre Lohnarbeit verrichteten: den Mitarbeitenden. D. h., es gab eine gewisse Verweigerung, die Entscheidung Signas, diese Menschen auf die Straße zu setzen und einen enormen Leerstand im Stadtzentrum zu hinterlassen, hinzunehmen. Das Gespräch mit Ute Jordan bestätigte diese Position, denn ebenso wie das leerstehende Gebäude verschwinden auch Menschen, ihre Geschichten, ihr Wissen und ihre Ideen nicht einfach. Wie also könnte weiterhin Nahversorgung, aber auch Arbeit, Austausch, gesellschaftliche Vielfalt, Kultur und demokratische Teilhabe im leerstehenden Warenhaus ermöglicht werden?
Das Konzept der Warenhäuser können wir jedoch auch nicht ohne Weiteres kritiklos übernehmen. Anders als im 19. Jahrhundert sind wir heute mit den Konsequenzen kapitalistischer Konsum-, Produktions- und Extraktionslogiken konfrontiert: Die Klimakatastrophe ist bereits Gegenwart, und die Verantwortlichkeit liegt im Globalen Norden, der seit Jahrhunderten die Ausbeutung des Planeten und der Menschen im Globalen Süden vorantreibt. Ein Weitermachen ist auch im Einzelhandel und in der Nahversorgung nicht mehr möglich und verlangt nach einer grundlegenden Transformation. Daher beschäftigten wir uns im Seminar mit Theorien des Postwachstums (Degrowth), des Transformationsdesigns sowie der Gemeinwohl- und der Solidarischen Ökonomie. Ausgehend von der einfachen Feststellung, dass „[u]nendliches Wachstum […] auf einem endlichen Planeten nicht möglich“ ist (Schmelzer/Vetter 2019), fragten wir, wie sich Versorgungsinfrastrukturen, also Warenhäuser verändern müssen. Wie kann Nahversorgung anders hergestellt, organisiert, betrieben und verwaltet werden? Was, wenn nicht Trends, sondern Bedarfe im Zentrum stünden, nicht Wachstum, sondern Ökologie, nicht Konsumieren, sondern Versorgen, nicht Eigentümer, sondern Arbeitnehmende und Stadtbewohner*innen?
Meine These für das Seminar war:
Wir brauchen ein Andershaus!
Das Andershaus ist ein Haus der Versorgung, dem eine ökologische Wachstumskritik und eine feministische Raumpraxis zugrunde liegt. Nicht das Kaufen steht primär im Vordergrund, sondern auch das Reparieren, das Selbstherstellen, das Tauschen. Nicht das Bauen oder Umbauen steht im Vordergrund, sondern die „Kleinen Eingriffe“ (Nägeli/Tajeri, 2016), die Fürsorge für den Bestand, die Pflege und die Instandhaltung. Es ist auch ein Haus, in dem die Frage des Bedarfs an erster Stelle steht, in dem Formen der Solidarischen Ökonomie erprobt werden können, und in dem Demokratie und Teilhabe einen integrativen Bestandteil ausmachen. Es ist ein selbstverwaltetes Haus, in dem diejenigen, die beraten und verkaufen, die reparieren und instandhalten, die tauschen und kaufen, darüber entscheiden, wie das Haus verwaltet wird, wie es sich entwickelt und ihr Gespür und Wissen für die tatsächlichen Bedarfe und Notwendigkeiten einsetzen.
In einer kollektiv erarbeiteten Studie beschäftigten sich die Studierenden mit der Geschichte der Warenhäuser, um nach Spuren des Gemeinwohls zu suchen, sie sprachen mit Mitarbeitenden und Menschen aus der Stadtverwaltung – und sie betrachteten das Haus kurz vor, während und kurz nach der Schließung. Sie entwickelten eine Beziehung zur Gegenwart und Vergangenheit des Hauses, um die Verwobenheiten, Affekte und Komplexitäten zu begreifen, die ein solcher Akt der Schließung mit sich bringt. Die Studie war zugleich die Grundlage für ein weiteres Seminar „Degrowth Lifestyles“, in dem die Teilnehmenden den Stadtbewohner*innen die Idee des „Andershauses“ mit dem Slogan „Austausch statt Kaufrausch“ vorstellten und diskutierten. Die Gespräche und Reflexionen resultierten in einer dreiteiligen Podcast-Reihe und zeigen, dass das Fundament für ein Andershaus als kollektives, gemeinwohlorientiertes Gebäude bereits da ist.
Veröffentlicht in
"Transformation (Kauf)haus.
Umnutzung monofunktionaler konsumorientierter Strukturen" 2023
Beteiligte: Seminarteilnehmende "(Warenhaus) Andershaus" – Abir Taoube, Marike Postel, Gesa Teichert, Maike Volkmer, Isabella Hans, Lea Marquart, Luzia Gödde, Amar Leila, Duc Anh Hoang, Jonas Schulte, Kristina Hahlbohm, Linus Starmann, Pia Brüchner-Hüttemann, Elena Ananskich, Johanna Jungeblut, Juliane Schwidun – sowie Seminarteilnehmende „Degrowth Lifestyles“ – Paul Dörsam, Lukas Feyrer, Caroline Fischer, Laura Leinert, Helena Loy, Cecilia Redante, Tabea Schamp, Isabel Vollmer und Paul Wessel – am GTAS, TU Braunschweig